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Ehrenamt darf nicht auf die Rolle des Lückenbüßers degradiert werden!

Soziale Organisationen sind mehr denn je auf Ehrenamtliche angewiesen, die von Staat und Politik selbstverständlich als zuverlässige und langfristige Ressource eingeplant werden. Doch wo Lücken in der sozialen Daseinsvorsorge auftauchen, wirkt sich dies auch auf die private Ebene von Menschen und ihre begrenzteren Ressourcen für ehrenamtliches Engagement aus.

„Soziale Organisationen stehen bekanntlich unter einem hohen Druck. Sie reagieren auf multiple Krisen und erleben soziale Spaltung und Anfeindungen. Gleichzeitig stellen sie große Teile der Daseinsvorsorge sicher und sind dabei mehr denn je auf Ehrenamtliche angewiesen. An diese wird von Seiten der Politik regelmäßig appelliert, ihren Beitrag für Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu leisten.“ so Michael Saitner, geschäftsführender Vorstand des PARITÄTISCHEN SH.

Doch immer mehr Menschen suchen sich informellere, kurzfristigere Aufgaben und meiden die Übernahme von langfristigen Verantwortlichkeiten. Dies ist weniger eine Frage der Motivation, sondern vor allem veränderten Rahmenbedingungen geschuldet: brüchige Betreuungs- und Pflegestrukturen, Herausforderungen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Diskriminierung oder Armutslagen.

„Soziale Organisationen stehen dadurch in einem Spannungsfeld,“ sagt Michael Saitner. „Auf der einen Seite müssen sie Angebote aufrechterhalten, auf der anderen Seite die Antriebskräfte für freiwilliges Engagement wahren und unterstützen.“

Sandra Schindler vom Familien Unterstützenden Dienst der Marli GmbH in Lübeck kennt dieses Problem nur zu gut: „Für Ehrenamtler wird es immer schwieriger, Motivation und Engagement aufrechtzuerhalten, wenn bei ihrer ehrenamtlichen Aufgabe im Alltag das Gefühl aufkommt, dass die Anforderungen von den Betroffenen und deren Familien ständig steigen und als selbstverständlich erachtet werden. Wir alle dürfen nicht vergessen, dass die Ehrenamtlichen keine Fachkräfte ersetzen. Aus Mangel an professioneller Unterstützung, z.B. in Form von Frühförderung, werden der Druck und hohe Erwartungen auf Ehrenamtliche verlagert, die in unserer Einrichtung Familien lediglich in ergänzender Weise unterstützen können und sollen. Für Menschen, die hier freiwillig engagiert sind, stellt das hohe Anforderungen an die Abgrenzung.“
Auch Enno Schöning von der ZBBS in Kiel, die für Kiel eine Beratungsstelle für Ehrenamtliche Flüchtlingshilfe vorhält und unter anderem Deutschkurse für Geflüchtete anbietet, sagt: „Ehrenamtliche helfen Zugewanderten durch den Dschungel der deutschen Bürokratie. Ohne diese Unterstützung würde vieles nicht laufen. Aber Ehrenamt braucht Hauptamt! Wir dürfen die Engagierten nicht allein lassen und müssen politisch darauf drängen, dass das Ehrenamt nicht zum Lückenfüller für Kürzungen bei den hauptamtlichen Angeboten wird. Wir wissen zudem: Wer sich ehrenamtlich für Geflüchtete einsetzt, hat mit viel Frustration zu kämpfen, weil viele Mühen konterkariert werden. Wir erleben, wie parallel zu einer kontinuierlich verschärften und repressiveren Migrationsgesetzgebung die Engagementbereitschaft in diesem Bereich stetig sinkt."
Alexandra Hebestreit vom nettekieler Ehrenamtsbüro erlebt in ihrer Beratung, was Sorgen macht: „Zivilgesellschaftliche Organisationen stehen zunehmend unter Druck! Einerseits sind sie gefordert wie nie – Deutschland im Dauerkrisenmodus, eine Zunahme an Demokratie gefährdender Tendenzen, steigender finanzieller Druck für große Teile der Gesellschaft, Sorge um gesellschaftlichen Zusammenhalt – und andererseits werden Förderungen für viele zivilgesellschaftliche Projekte, die genau dort ansetzen, nicht angehoben, gekürzt oder sogar ganz eingestellt. Immer in Krisenzeiten wird Zivilgesellschaft besonders sichtbar: Wenn sich zu Beginn des Ukrainekrieges über 800 Kielerinnen und Kieler melden, um ihre Hilfe anzubieten! Dann steht das zivilgesellschaftliche Engagement plötzlich wieder im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung, wird dringend gebraucht und „gefeiert“. Aber eben nicht nur in Krisenzeiten lebt eine starke Demokratie vor allem auch von aktiven Bürgerinnen und Bürgern, die im Sinne des Gemeinwohls mitgestalten. Deswegen braucht es dringend verlässlich finanzierte Strukturen, damit zivilgesellschaftliche Organisationen nachhaltig aufgestellt ihren wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung, demokratischen Resilienz unserer Gesellschaft und konkret zur Gestaltung guter Rahmenbedingungen für Engagement und Ehrenamt leisten können.“